Provinz Verlag, Literatur aus Südtirol

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Frankfurter Buchmesse 1999 - Dr. Árpád Göncz

REDE DES Árpád Göncz, PRÄSDENT DER UNGARISCHEN REPUBLIK ANLÄSSINCH DER ERÖFFNUNG DER 51. FRANKFURTER BUCHMESSE 1999

Frau Oberbürgermeisterin Roth,
Herr Staatsminister Naumann,
Herr Vorsteher Ulmer,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Meine lieben Freunde !

Verzeihen Sie, wenn ich das, was ich zu sagen habe, eine im höchstem Mab e “öffentliche Angelegenheit”, mit einer “Privatangelegenheit” im engsten Wortsinn beginne: Sechseinhalb Jahre hat es in meinem Leben gegeben, die ich nicht im allgemeinen mit Büchern, sondern mit drei Büchern geteilt habe. Auf der ersten Seite fand sich jeweils der Stempel der Gefängnisverwaltung mit dem Vermerk: “kontrolliert.” Und wenn ich das Gefängnis wechselte, wurden mir die Bücher weggenommen, dann das eine, oder das andere oder aber alle drei zurückgegeben. Das eine war ein Gedichtband von Attila József, jenes Dichters, der mir am nächsten steht, das zweite ein deutscher Roman: Thomas Manns Joseph-Tetralogie, die im Wechsel eingezogen und zurückgegeben wurde, je nachdem, ob das Werk vom zuständigen Gefängnis gerade als westdeutsch oder ostdeutsch eingestuft wurde. Der dritte Titel lautete Aufzeichnungen eines Jägers, ein Erzählungsband des Russen Iwan S. Turgenjew, der glücklicherweise permanent als “Ostrusse” bewertet wurde. Meines Erachtens sind die drei Bücher – zusammen – als Literatur eingestuft worden. “Ohne Grenzen.” Der Lyrikband selbst war die innere Grenzenlosigkeit, Joseph in der Grube eine eigenartige – literarisch abstrakte – und in die Zukunft sich ausdehnende Wirklichkeit meiner damaligen Tage, Turgenjew die Stille der Birkenwälder, die Grenzenlosigkeit der Natur, deren Teil der Mensch ist, was so insgesamt die gnadenlose und gemäß der Justizterminologie “lebenslang” geplante Grenzlinie des Gefängnislebens erträglich machte und in die Unendlichkeit erweiterte.

Jawohl, wäre ich es bislang noch nicht gewesen, dann wäre ich damals zu einem “lesenden Menschen” geworden, ich, dessen zugegeben ständig sich wandelndes “Literaturbild” schon sichtbar geworden war und dessen Qualität davon abhängig ist, welche Aufgabe er der Literatur zuweist.

Ich erwarte von ihr, dab sie meine Welt erweitert.

Die Welt des menschlichen Geistes, daran glaube ich, ist zeitlos und universal. Ihr Ursprung reicht zurück bis zum gemeinsamen Urerlebnis, als die blutig untergehende und am Morgen in ihrer ganzen Herrlichkeit wiedergeborene Sonne und die Königin der Nacht, der Mond, in unseren Ahnen das Bild der Götter und des Jenseits haben entstehen lassen. Eingebüßt hat sie ihre Zeitlosigkeit und Universalität offensichtlich damals, als der Mensch erstmals den Versuch unternahm, sein Erlebnis in Worte zu fassen. Das Instrument dazu war die Sprache, und sie ist mehr als eine gegliederte Anhäufung von Lauten, denn all ihre Wörter hängen vom benachbarten Wort ab, und die Gesamtheit der Wörter bilden nolens volens die unmittelbare Welt ihres Benutzers in Abgrenzung zu der anderer ab. Das ausgesprochene, doch insbesondere das niedergeschriebene Wort, falls es an einen anderssprachigen Menschen gerichtet wird, ist auf die Übersetzung angewiesen. Das heißt, es muß in Einklang gebracht werden mit dem Schriftbild der anderen Sprache, sofern uns daran gelegen ist, daß der Anderssprachige in unseren Worten das gleiche ebenso wahrnimmt wie wir selbst.

Die Frankfurter Buchmesse ist ein gigantischer Marktplatz der geschriebenen Worte. Hier wollen wir unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart, deren unmittelbares Milieu, deren schöpferisch gestaltete Kopie veräußern. Ein jeder verstaut seine Worte unter dem großen gemeinsamen Busch, zieht sich zurück und lauert drauf, was der Nachbar davon auswählt und was er im Tausch dafür zurückläßt. Sein einziges Instrument ist die Überzeugung. Sachen müssen wir unter den Busch packen, die dem anderen den Eindruck vermitteln, dab sie, wenn er sie dreht und wendet, betrachtet, ihm von Nutzen sein könnten.

Das Unterpfand des guten Rufs besteht also darin, dab unsere Ware, die in Worte gekleidete Welt: die Literatur unserer Muttersprache, auch vom Käufer als Wert begriffen wird. Die Auswahl der angebotenen Werke beansprucht zweiseitige Sorgfalt und Verantwortung. Leicht können wir uns vergreifen, wenn nicht auch wir selbst die Bedürfnisse des Tauschpartners kennen, die mit unseren identisch sein oder ihnen ähneln, aber auch grundverschieden sein können.

Der größte Teil der auf dem Markt, auf diesem Markt, erscheinenden Tauschpartner sind Benutzer der heutigen Weltsprachen. Ich meine nicht, dab das Ungarische hier alleinstehend wäre: innerhalb der uralaltaischen Sprachen gehört es zum obugrischen Zweig der finnisch-ungrischen Sprachfamilie. Doch sein Gebrauch ist eng umgrenzt, auch mag es jünger sein als die gegenwärtigen Weltsprachen. Es ist bildhafter und steht dem Ursprung der Sprachen näher. Das Ungarische befindet sich in Opposition zu den Weltsprachen, deren drahtige Begrifflichkeit die wichtigste Quelle einer jeden Sprache, das Bild, fast schon überlagert. Das metaphorische Element ist ein Vorzug und Nachteil zugleich. Ein ungarischer Schriftsteller vermag nur schwer einzuschätzen, ob seine Aussage in der Übersetzung den gleichen Inhalt vermittelt, wie er ihn mit Hilfe seiner sprachlichen Mittel so selbstverständlich artikuliert hat: von Jahrhunderten oder heute unabhängig vom Stoff oder der Art zu schreiben. Denn aus seiner Sprachhaut kann er nicht schlüpfen, vergebens würde er versuchen, ein anderer zu sein, als er ist.

Ich behaupte nicht, Sprache und Aussage des ungarischen Schriftstellers würden sich in einer sich beschleunigenden Welt nicht in rasantem Tempo an zusehends homogene Erwartungen der Leser anpassen, werden doch Leben und Worte des Autors vom Sturm des Wandels ebenso umhergewirbelt und geformt, wie die eines jeden anderen. Doch angesichts der Unterschiedlichkeit des sprachlichen Ausgangsstoffs bleibt er selbst im Wirbel des gleichen Sturms ein anderer. Der universale Wert seines literarischen Anliegens verbirgt sich gerade darin, in seiner lokalen Glaubwürdigkeit, in jenem Mehr an Neuigkeit, in seiner speziellen Atmosphäre und Farbgebung, die er der Universalität des menschlichen Geistes hinzufügt. Denn eines sollten wir nicht vergessen: Jede wahrhaftige Werk ist von vornherein ortsgebunden. Das heißt, es ist provinziell, es hat Platz auf dem Schauplatz eines einzigen Dorfes, eines einzigen Stockwerks in einem einzigen Mietshaus eines städtischen Außenbezirks. Und gerade die Tatsache, dab es nicht unbegrenzt und hinsichtlich seiner Herkunft sehr wohl ortsgebunden ist, macht die Wahrhaftigkeit des Werks aus.

Im Bewußtsein all dessen empfehle ich heute in einem Land, in dem eine indoeuropäische Sprache gesprochen wird, ungarische Literatur einem jeden, der bereit ist, im anderen den gemeinsamen menschlichen Geist zu erkennen. Das selbst unbekannt Bekannte, das er jetzt bestaunt. Im Spiegel unserer Augen wird er, so hoffe ich, diese andersartige Welt liebgewinnen.

Erlauben Sie mir, meinen Dank dafür auszusprechen, dab ich als Staatspräsident Ungarns, als ungarischer Schriftsteller zu Ihnen eingeladen worden bin und auf diese Weise als Ihr Gast ein Teilnehmer und Zeug dieses aufregenden und gemeinsamen geistigen Abenteuers sein darf.

Als Präsident seit nunmehr fast zehn Jahren und als Schriftsteller seit nunmehr fast dreib ig Jahren erfährt er die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes, bemüht sich, Nutzen darus zu ziehen und seine Glaubwürdigkeit zu mehren. Gerade hier in Frankfurt, wo wir Ungarn dank Ihrer Freundlichkeit Ihr Ehrengast sein dürfen, genauer gesagt, das ungarische Wort, das seine Grenzen zu sprengen sucht.



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